153
Stefan Petermann (Weimar)
»Auf dünnen Ästen 1953
Jeden Morgen nahm Mama ihr wackliges Fahrrad und fuhr damit in die Fabrik. Erst am Abend kehrte sie zurück. Währenddessen sollte ich auf Oma achtgeben. Doch meistens lag Nonni nur im Bett und starrte mit offenen Augen an die Decke. Dafür war meine Anwesenheit nicht notwendig. So hatte ich die Nachmittage für mich. Dann ging ich hinaus, hin zu den anderen.
Ich weiß nicht, ob die Kinder mich mochten. Ich habe mich niemals angestrengt, zu ihnen zu gehören, ja wahrscheinlich habe ich viel zu oft versucht, etwas anders zu tun als sie, nicht weil ich es guthieß, sondern weil ich mich so von ihnen unterscheiden konnte. Wenn sie den verrückten Kutti mit Kieselsteinchen bewarfen, stellte ich mich demonstrativ vor ihn. Wenn unsere Bälle Fensterscheiben zersplittern ließen und sie blitzartig die Flucht ergriffen, war ich es, der blieb und dafür Ohrfeigen kassierte. Wenn wir in die Kirschen stiegen und sie auf halber Höhe stoppten, kletterte ich auf die dünnen Äste weiter.
Ich kaute Sauerampfer, obwohl ich wusste, dass ich davon Durchfall bekommen würde. Ich sprang im kalten Herbst in den Fluss, schlug mich ohne jede Erfolgsaussicht mit denen aus den höheren Klassen, widersprach den Stärksten, lobte die Hinterhältigen, verteidigte die Dummen. Einmal lief ich in einem Kleid durch die Straßen, nur, weil niemand sonst das tat.
Doch der Spott machte mir nichts. Ich wollte für niemanden greifbar sein. Niemand sollte mich einordnen können. Ein brennendes Verlangen war in mir, mich von ihnen abzuheben, unter allen Umständen anders zu denken, zu fühlen, zu handeln. Wenn sie Licht waren, wollte ich ein Schatten sein.
Dafür nahm ich alle Nachteile in Kauf. Irgendwann, wusste ich, irgendwann würde sich meine Unvernunft auszahlen.«